Aus der Serie: My pushing and struggling in the eighties. Über das Schwärmen für NDW-Sängerinnen und über eine lustige Single von LILLI BERLIN (1982)

Während der ersten Hälfte der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts befand ich mich in einer merkwürdigen Phase, in der ich urplötzlich vom Knaben zum vollwertigen Mann reifte. Ich hätte bereits lieben können, hätte einem bezaubernden weiblichen Wesen mein Herz schon schenken wollen mit (fast) allem, was dazugehört, nur sollten unglücklicherweise noch etliche beknackte Jahre vergehen, bis die Damenwelt endlich von mir Notiz nahm. Für schöne Frauen war ich Luft.

Was mir blieb waren erstens Schwärmereien und zweitens verfügte ich über ausgiebig Zeit, mich meiner Leidenschaft Rock’n’Roll zu widmen.
Die Neue Deutsche Welle schlug bei mir voll zu. Dieser Musiktrend hatte es mir angetan, natürlich nicht in seiner Gesamtheit, denn ich war sehr wohl schon in jungen Jahren in der Lage, die lachhafte Schwachsinns-Sparte dieser „Bewegung“ oder den hemdsärmeligen Gewerkschafts-Schlager mancher Spießerrocker von punkiger New Wave-Musik zu unterscheiden, die mit bissigen, witzigen oder düsteren deutsch gesungenen Texten eine Seite bei mir zum Klingen brachte, einen Nerv traf.

Genau dieses Subgenre rückte einen Frauentyp in den Focus, an den ich mein Herz damals verschenkte: Eine exaltierte aber dennoch kühle bis unterkühlte Sorte selbstbewusster unnahbarer Sängerinnen.

So schlug mein Herz als Teen also für Annette Humpe von IDEAL und für ihre Schwester Inga von den NEONBABIES und es schlug für Andrea Mothes von NICHTS, für die Sängerin von LICHTBLICK und natürlich, obwohl sie nicht in das Genre, das ich grad beschrieb hineingehört, für die fantastische NINA HAGEN!

Mein Freund Musti teilte teilweise meine Leidenschaft, schliesslich war es sein wesentlich älterer Schwager, von dem wir manche der musikalischen Impulse aufsammelten. Dieser Mann wusste, was cool war.

Eines Tages stöberten Musti und ich durch das Tschernovülbeler Kaufhaus Wollwott und blätterten in der Plattenabteilung, die jedes Kaufhaus damals hatte, durch einen Kasten 7-Inch-Vinylsingles, die für 50 Pfennig oder ne Mark verramscht wurden. Die Singles waren schon total abgegriffen. Kunden hatten sie wohl etliche Male angefasst, aber sie ungekauft liegen lassen. Wie Blei im Regal hatte anscheinend das Exemplar von LILLI BERLIN geklebt, denn es befand sich gleich 10- oder 20-fach in der Krabbelkiste. Musti und mir sprang das Cover sofort ins Auge. LILLI BERLIN sagte uns garnichts, aber man sah dem Foto überdeutlich an, dass diese Dame und ihre zwei Bandkollegen offensichtlich jenem Sound und jener Sorte Coolness zugetan waren, die wir favorisierten.

Fiesbrillentypen in enger Kunstfaser und eine eiskalte, überkanditelte Wildtoupierte: Klar, dass hier unsere Sorte Musik drauf sein würde! Die Songtitel wurden mit „Ostberlin – Wahnsinn“ angegeben und mit „lächerlich“ – da konnte ja nichts schiefgehen.
Musti und ich investierten beide die fuffzich Pfennig und trugen jeweils unseren Fund neugierig zur Kasse und dann zu Musti nachhause. Was soll ich sagen: Wir wurden nicht enttäuscht. Aufgekratzte, simple Synthieklänge, hohes Tempo, der Geist des Punk und ironische Texte, herrlich übertrieben vorgetragen von dieser uns unbekannten Sängerin mit dem lustigen Namen, dazu kleine Männerchor-Einwürfe.
Echt hey, die „Ostberlin/Wahnsinn“ – Single war toll, und sie ist es noch heute.

„Der Blick durchs Brandenburger Tor – scheisse, steht ja was davor“ – Das atmet Geschichte, wenn du es heute hörst und es zaubert mir noch immer ein Riesengrinsen ins Gesicht.


Where are they now?
Was machen die in diesem Text Erwähnten heute? Die Humpe-Schwestern tauschten IDEAL und NEONBABIES gegen ICH UND ICH und 2RAUMWOHNUNG, das weiss jeder, aber nach LILLI BERLIN musste ich erstmal googlen. Interessant: Die damalige Sängerin designt heute feenhafte Mode.
Lilli Berlin bei wikipedia

Rockgeschichtliches P.S.:
Mitgründer der Band Lilli Berlin war der bekannte Schlagzeuger und Keyboarder Harald Grosskopf, eine verdiente Figur des Krautrock, was ich damals allerdings noch nicht wusste.

ach ja: mehr über NINA HAGEN hier im Blog.

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